Eine präsidentialistische Lesart der Verfassung ☹

Der Premierminister Michel Barnier kommt aus einer politischen Partei, der LR, die bei den Parlamentswahlen nur 46 Sitze erlangt hat. Er wurde direkt vom Präsidenten ausgewählt (zwar nach wochenlangen „Konsultationen“, die er aber selbst persönlich geleitet hat). Seine Wahl ist nicht das Ergebnis einer nach den Wahlen getroffenen Vereinbarung zwischen einer Koalition von Parteien. Mit seiner Wahl bekräftigt Präsident Macron drei Dynamiken, die dem System der Fünften Republik eigen sind: die Marginalisierung der politischen Parteien im Verfahren der Regierungsbildung; die absolute Zentralität des Präsidenten in der politischen Führung des Staates; die größere Bedeutung der Präsidentschaftswahlen im Vergleich zu den Parlamentswahlen. Dieser letzte Punkt wird durch die allgemeine Haltung der verschiedenen Parteiführer bestätigt, die den Kampf um die Ernennung des Premierministers verloren haben und ihre Energien nun auf den bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf konzentrieren. Die beispiellose Situation, die wir gerade erlebt haben, wird jedoch sicherlich Spuren hinterlassen, ganz abgesehen davon, dass sie noch nicht endgültig abgeschlossen ist. Michel Barnier muss nun eine Regierung bilden, die den Konsens einer zumindest relativen Mehrheit des Parlaments finden kann. Es wird interessant sein zu beobachten, ob der neue Premierminister sich dafür entscheidet, auf die Vertrauensabstimmung des Parlaments zurückzugreifen. Rechtlich gesehen ist er dazu nicht verpflichtet, aber wenn er es tut, können die Wähler besser verstehen, welche Regierungskoalition mit welchem politischen Programm gebildet wurde. Außerdem könnte sich das Leben einer solchen Regierung als kurz und turbulent erweisen. Es handelt sich um eine Regierung, die unter einem erheblichen Mangel an demokratischer Legitimität leidet. Zwar erfolgt ihre Regierungsbildung unter Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorschriften, aber welches Vertrauen in die Institutionen können Bürger haben, die (ausnahmsweise!) in Scharen zu den Parlamentswahlen gegangen waren und die sich anschließend wahrscheinlich einer Regierung gegenübersehen, die die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nur unzureichend widerspiegelt?

Wir müssen uns also auf eine sehr lebhafte institutionelle Phase einstellen: Vorschläge für Misstrauensanträge, Mechanismen, um die Verabschiedung von Gesetzestexten zu „erzwingen“, wie der 49.3 und die blockierte Abstimmung, ständige Verhandlungen der Regierung, um nicht gestürzt zu werden, eine mögliche Auflösung nach den nächsten Präsidentschaftswahlen... Aber was vielleicht noch besorgniserregender ist, sind die politisch-sozialen Folgen. Die Tendenzen zur Polarisierung und zum Aufstieg der Extreme werden nur noch verstärkt, das Misstrauen der Bürger gegenüber der Politik nur noch größer und die Krise der demokratischen Kultur nur noch tiefer.

 

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